Münchner Sagen & Geschichten

Die Stationstafel am Riesenthor des Domes zu u. l. Frauen .

Trautmann - Die Alt-Münchner Wahr- und Denkzeichen (Seite 51)


Wer am Riesenthor, zwischen den beiden Frauenthürmen zu München einhält und zur Rechten des Thores schaut, der sieht ein steinernes Bild, und das stellt unsern Herrn Christus auf dem Oelberg vor.

Dieß Bild ist ein recht altes Münchner Wahrzeichen, und es geht eine wehmüthige Kunde von demselben.

Zur Zeit noch nicht die jetzige, nahezu vierhundertjährige, sondern noch die viel kleinere Marienkirche stand, lebte zu München eine gar ehrbar fromme Wittwe. Die hatte einen Sohn, auf welchen sie viel Vertrauen und Hoffnung setzte und dem sie alles Gute in's Herz zu pflanzen bemüht war. Er schien sich auch gut anzulassen. Mit wachsenden Jahren kam er nun in böse Gesellschaft, und eh' sich's das Mütterlein versah, waren alle ihre guten, alten Lehren vergessen, und wenn sie dafür neue ergeben ließ, wurden sie abgewiesen, und ihr Sohn ging auf seinen leichtsinnigen Pfaden noch weiter. Da sie hierauf strenger ward und ihn in Manchem kürzer hielt, ward er um so viel böswilliger und einmal gerieth er so fast in Zorn, daß er rief: „Meinst du, weil du im Alter bist, ich aber jung, soll ich sein, wie Du? Gieb mir mein Väterliches heraus, dann sind wir Zwei aus einander!" Und als das Mütterlein nicht sogleich zusagte, erhob er in seinem Frevel die Hand und wollte seiner eigenen Mutter einen Schlag versetzen. Da ward ihm sein Arm im Augenblick gelähmt, so daß er ihn drei Tage lange nimmer bewegen und führen konnte.

Auf das ward jener ganz zerknirscht, betete viel, übereins ging es mit seinem Arm wieder besser, und drauf ließ er sich eine Zeit lang nimmer bei seinen Gesellen sehen, bis sie ihn einst aufsuchten, allein mit ihm verkehrten und ihn verhöhnten, daß er an ein Zeichen Gottes glaube, wo er doch nur sein Recht verlangt habe, denn auf eine Spanne Zeit früher oder später komm' es nicht an.

Das ging ihm wohl ein, er fing wieder an mit seinem Leichtsinn, ward stets kecker gegen seine ehrwürdige Mutter und drohte ihr mit allem Bösen. Und als sie ihn mit noch mehr Ernst zur Pflicht mahnte, an Gottes Gericht erinnerte und, da das Alles nichts fruchtete, sich einmal vor ihm auf die Kniee warf und ihn um Besserung anflehte, stieß er sie von sich, riß mit Gewalt einen Schrein auf, nahm, was er an Geld und Gut fand, und rief ihr zu: „ Das ist, was mir gebührt, ich bin mir alt genug, deiner Lehren bin ich satt! Luſtig gelebt, selig gestorben!“

Auf dieß dehnte die Wittwe ihre Arme gen Himmel und sagte: „Herr Gott, gieb, daß er selig sterbe und nicht mit Deinem Fluch beladen werde! So viel er schwelgt, so viel will ich mich an Seiner Statt kasteien und will entbehren!"

Da lachte er und rief: „ Kastei' du dich, so viel du willst! So viel mehr du mir ersparst, desto lieber ist es mir!"

Damit ging er seiner Wege, ließ sein Mütterlein auf dem Antlitz liegend zurück und führte sein sündiges Leben fort und drin kam er stets weiter voran. Dieselbe Wittwe aber lebte von der Zeit an schier mit nichts, ging zu einem richtigen Steinmetz, gab ihm eine Summe Geldes, die sie hatte, und bat ihn, den Oehlberg mit dem Herrn Christ aus Stein zu hauen. Dabei lag ihr des Erlösers Bitte im Sinn, daß Gott den Leidenskelch an ihm vorübergehen lasse, und so war auch ihre Bitte zu Gott. Nehmlich daß er ihr erspare, den Leidenskelch wegen ihres Sohnes auszutrinken.

Wie nun eine gute Zeit verstrichen und das Werk fertig war, bat die Wittwe, daß sie den Stein an der Thüre des Marienkirchleins einsetzen lassen dürfe; das ward ihr auch gerne gestattet, und nun betete sie gar oft vor demselben, und viele Andere thaten desgleichen. Und als das schon lange Zeit so war, hatte ihr gottloser Sohn mittlerweile all das Seine verthan, war vom Leichtsinn bis in's Verbrechen gerathen, schließlich zu Handen des Gerichts gekommen, und das hatte ihn auf sieben Jahre zum Kerker verurtheilt. In dem erfuhr er nichts mehr von der Welt draußen, machte sich aber die ärgsten Vorwürfe, daß er seiner guten Mutter Rathschlägen nicht gefolgt sei und sie überdieß so schmächlich gekränkt habe, und er schwor Gott auf das Heiligste, ein anderer Mensch zu werden und die schwerste Buße zu thun, wenn er ihm nur so viele Seligkeit gebe, daß er seine Mutter noch im Leben sehen und sie um Vergebung bitten könne.

Also wie nun die Zeit kam, und er eines Tages wieder frei wurde, war sein Erstes, daß er heim eilte gen das Thiereckgäßlein, wo er meinte, daß seine Mutter wohne. Als er aber hinkam, traf er andere Leute, und als ihn Die erkannten, riefen sie ihm zu: „ So, du bist der Schelm, so der frommen Wittwe so viel Leid und Schmach angethan hat, daß sie vor Schmerz und Wehkummer um ihn starb?! Jetzt liegt sie auf St. Marienkirchhof unter ihrem steinernen Oehlberg - auf und verlaß dieß Haus, denn wo du bist, kommt der Fluch!"

Da schwankte der Sohn der Wittwe fort zum Marienkirchlein, sah den Oehlberg eingemauert und sah der Mutter Grab, zerraufte sich die Haare, warf sich nieder und flehte um ein Zeichen der Vergebung. Und so ging er Wochen und Monde dahin und kam immer bleicher und elendiger, denn er aß und trank schier nichts mehr, so daß die Menschen zuletzt Erbarmen empfanden, weil Jeder seine schreckliche Reue erkannte. Drum redete wieder Der und Jener mit ihm und wollte ihn überreden, seine Mutter im Himmel möcht' ihm doch wohl vergeben haben.

Er aber schüttelte jedesmal sein Haupt und kam immer mehr herab, daß er schier nimmer gehen konnte — aber von seinem Pfad zum Grabe ließ er nicht ab.

Und als er einst wieder daher kam, sagte Einer  ,,Du kommst ja deines Weges nimmer fort - und dennoch ist dein Antlitz heute ganz froh!"

Drauf sagte er: „Das mag wohl froh sein, denn ich hab' im Traume das Zeichen bekommen, danach mich dürstete in meiner Seele. Ich wollte bis da meine Mutter sehen, daß sie mich freundlich anblicke. Da flehte ich all die Zeit über vergebens. Aber heute trat sie in der Nacht zu mir, licht wie ein Engel, im Antliß ganz heiter, aber ihre Augen sah ich gleichwohl naß. Da rief ich im Traum: O du, meine Mutter, deine Augen sind naß vor lauter Leid und Jammer – die laßen selbst im Himmel nicht ab?! Auf das sah sie mich zu tiefst an und sagte: O Sohn! Wie ich weine, hab' ich gar oft geweint und noch viel mehr. Aber jetzt ist Alles vorbei, und was mir weh gethan hat, das hab' ich ganz vergessen! Da brach ich im Traum in Schluchzen aus und klammerte mich an sie und küßte sie rastlos, und sie mich - und darüber bin ich erwacht. Nun weiß ich, daß sie mir vergeben hat - und wär' ich nur schon bei ihr! Dafür möcht' ich ein anderes Zeichen — wollte Gott mir nur eines geben, daß ich wüßte, wie lang ich noch leben muß!“

Und als er das eben gesagt hatte, thats vom Marienkirchlein sieben Glockenschläge. Die waren wie eine Stimme vom Himmel und wie eine Antwort auf seine Frage. Aber er wußte nicht, was gemeint sei — sieben Tage, Wochen oder Monde.

Aber es traf auf das Erste zu. Am siebenten Tag starb er und ward zu seiner Mutter in's Grab gelegt.

Daß mag gewesen sein Anno Dom. 1450.

Als unser lieben Frauen Dom groß gebaut ward, kam der steinerne Oehlberg wieder an's Kirchthor.

Requiescant in pace.


Denkmal an Gerd Müller